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Sonntag, 2. Mai 2021

Nachspann :)

 Da können meine Finger wohl doch nicht von der Tastatur lassen - sieh mal einer an. Aber wer mich kennt, weiß, dass ich nicht immer so stringent bin und ein Springen von hier nach da hin und wieder vorkommt. Ich persönlich liebe diese Energieschübe. Viel zu lange habe ich sie nicht mehr gespürt und mich in einer Art langem Winterschlaf befunden seit dem letzen Herbst. Zu viele Abschiede von Menschen und Möglichkeiten haben sicherlich dazu beigetragen. Noch nicht einmal meine Liebesperlen-Zoommeetings konnten mich packen. Vor zwei Wochen hat sich dann mein Körper beschwert, dass mein Geist so lange auf Eis gelegen und träge diese wertvollen und letztendlich begrenzten Tage ins Land ziehen lassen hat, ohne richig teilzunehmen. Kein Joggen mehr, keine Yogaeinheiten, kein Lachen, das mein Bauchfell vibrieren lässt, keine größeren Verrücktheiten, viel Gemotze, noch mehr Grübelei - kein gar nix. Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie Körper und Geist gemeinsam verweichlichten. Es war höchste Zeit für eine Schneeschmelze - genau das wollte mir mein Körper sagen. Tschüß Eiszeit. Zu oft schwelte die Frage: "Wie viel Vianne ist noch hier? Genau hier, in meinem realen Leben. Wie viel Vianne ist noch in mir???  Wie viel Vianne soll mich weiter begleiten? 

Und genau in solchen Momenten kommen wertvolle Freunde ins Spiel, die gar nicht viel machen, aber die richtigen Themen parat haben: Quantenphysik - Verschränkung - ein Meer aus Möglichkeiten, die sich hinter dem Vorhang abspielen. Wie real ist deine Realität? Danke Yasmin für "Quantenphysik für Hippies" :)

Die Frage, wie viel Vianne noch hier ist und mich begleiten soll, ist mittlerweile leicht zu beantworten: Ganz viel! eine riesige Viannewelle soll durch mein Leben fluten. Keine Welle, vor der man Angst haben muss, dass sie einen überrollt und zu verschlingen droht, sondern eine, die mitreißt mit ihrer Energie, Spritzigkeit und Lebensfreude, die dir kleine Wassertropfen ins Gesicht wirft, dein nasses, von der Sonne gebleichtes Haar durcheinanderwuselt, während du auf deinem Surfboard oben auf dem Wellenkamm reitest, den weiten Oezan voller faszinierender Möglichkeiten im Rücken. (Anm.: "Australien, das war nicht mein letzter Surfkurs, auch wenn ich mir hin und wieder vor Schiss in die Hose gemacht habe.") Eine Welle, die dich trägt, die dich inspiriert mit ihrer Dynamik, bis sie schließlich sanft ausläuft. Und dann paddlest du erneut hinaus, abwartend, auf deinem Surfboard träge treibend, bis die nächste passende Welle kommt...in diesem Meer aus Möglichkeiten. Und wenn du dann noch der Überzeugung bist, dass es nicht nur diesen einen Ozean an Möglichkeiten, sondern unendliche viele mit ebenso unendlich vielen Möglichkeiten gibt, dann öffnet sich dein Herz und lässt Licht, Frieden und Zuversicht hinein. Mir verschafft diese Sichtweise, die ich nicht gänzlich fassen kann und wahrscheinlich auch nie gänzlich erfassen werde, Freiheit. Die Frage ist ja: Ist Vianne weniger real, weil sie nicht mehr in der von uns definierten Realität lebt?






 




Samstag, 26. Dezember 2020

Die Zeit ist reif...

 Ihr Lieben, es wird Zeit.... sich an dieser Stelle zu verabschieden....



Herrscher der Zeit

Kennst du die Sage vom Herrscher der Zeit? 
Grassierend bis in die Ewigkeit.
Die Stunden,Monate und etlichen Jahre,
Stellst du die Zeit denn niemals in Frage?
 
Begleiter über luftige Berge.
Gefährte in das Land der Zwerge.
Gefangen in der Norm der Menschen,
Gatter, Zäune, Hürden, Grenzen
 
Magst du die Zeit vohl gern bezwingen,
mit ihr gar um die Stunden ringen
den Ablauf der Zeit zu zählen beginnen,
und die Zeit so wahrlos nutzlos verbringen?
 
Dann bist du auf dem falschen Wege
Gradwanderung über schmale Stege
auf dem du dir selber im Wege stehst
und gehetzt durch dieses Leben gehst
 
Genieße Sonne, Regen, Zeit
in deiner eigenen Ewigkeit
wandere vorwärts und zurück  
Gehe durch die Dimensionen
auf dem Weg zum eigenen Glück 
(Ich, 1996) 

Wundersame verquere Zeit, wie unterschiedlich du empfunden wirst, wie sehr du unser Leben prägst, wenn nicht sogar bestimmst, und wie stark du in uns und unserem Wortschatz verankert bist...

"Die Zeit heilt alle Wunden" - "Lass dir Zeit" - "Es wird Zeit" - "Zeitlebens werde ich an dich denken" - "Du hast keine Zeit mehr" - "Hast du mal wieder die Zeit vergessen?" - "Das ist zeitlos" - "Spar dir deine Zeit" - Hast du kurz Zeit?" - "Deine Zeit ist abgelaufen" - "Ich brauche noch etwas Zeit" - "Kommt Zeit, kommt Rat" - "Nimm dir die Zeit, die du brauchst" - "Wir hatten eine tolle Zeit" - "Beeil dich, wir haben keine Zeit" - "Die Zeit ist nicht spurlos vorüber gegangen"...

Wie sehr du manchmal Schmerzen zufügst und zu welch immenser Freude und Dankbarkeit du andererseits beiträgst. Du bist Dieb und Wohltäter in einem, Zeit. Du bist gnadenlos und gönnerhaft. Ich liebe und ich hasse dich zugleich. Du hast Vianne und mir Zeit gestohlen. Und du hast mir Zeit gegeben, wieder aufzustehen. Auch kannst du mir die Zeit mit Vianne nicht nehmen - außer vielleicht, wenn du mir in Zukunft meine Erinnerungen nimmst ...?  Du faszinierst mich und du stößt mich gleichzeitig ab. Ich glaube, ich habe noch eine Rechnung mit dir offen. Wer hat dir erlaubt, Viannes und meine gemeinsame Zeit zu beenden? Ich hätte so gerne mehr Zeit mit Vianne zusammen verbracht - glückliche, unbeschwerte, luftigleichte Momente. Du hast mir Vianne entrissen, hast Viannes Zeit hier ablaufen lassen, du verdammter Bastard - und warst andererseits so gnädig, sie nur kurz leiden zu lassen."Mama, muss ich wirlich bald sterben?" Genau das hat mich Vianne im Frühjahr und Sommer 2015 wiederholt gefragt. Und mit Nachdruck gesagt, dass sie nicht sterben möchte. Es ist nicht fair! - Nein!, es ist geradezu pervers, dass eine Sechsjährige, eine Sechsjährige, die noch nicht einmal Zeit gehabt hat, ein Schulkind zu sein, die noch nie einen Jungen geküsst und dabei Schmetterlinge im Bauch gehabt hat, die niemals die Nächte durchtanzt und Paris gesehen hat, so etwas äußern muss. Nicht fair... Kannst du überhaupt fair sein, Zeit? Ich erinnere dich nur an die Sache mit der Eintagsfliege oder den Falten. Wer gibt dir das Recht, dass du Entscheidungen von solch einer Tragweite treffen darfst? Wer?

Mit der Zeit ist es so eine Sache. Auch wenn sie objektiv messbar eine definierte Spanne umfasst, wird ein jeder diesen definierten Abschnitt anders empfinden. Sicherlich auch die Eintagsfliege. Aus Stunden können Tage werden, aus Tage Wochen, und ein ganzer Tag kann zu wenigen Stunden zusammenschrumpfen. Zeit ist also etwas Dehnbares. Sind wir glücklich oder ist etwas spannend, vergeht die Zeit wie im Fluge. Tun wir etwas Ungeliebtes oder erwarten wir sehnsüchtig etwas, kriecht die Zeit im Schneckentempo vorwärts. 

Als Viannes Metastasen wuchsen, rann uns die Zeit förmlich durch die Finger. Und doch hatten wir gehofft, mehr Zeit zu haben.. Als Vianne vor Freude quietschend gemeinsam mit ihren Geschwistern durch das schlammige Watt rannte, kein Matschloch ausließ, in das sie sich hineinplumpsen lassen konnte und dabei kicherte, was das Zeug hielt, hätte ich die Zeit so gerne angehalten. Heute klammere ich mich an die Zeit, als wir im Sommer 2011 zu sechst mit unserem Bulli durch Frankreich fuhren und mit unserem pinkfarbenen Familien-Schlauchboot durch die Verdon-Schlucht paddelten. 

Ich glaube aber auch, dass man fühlt, wenn die Zeit gekommen ist. Eine gefühlte Ewigkeit - seit dem Sommer - habe ich in Viannes Blog keinen einzigen Eintrag mehr verfasst und mich intensiv gefragt, warum eigentlich nicht. Noch immer fließen die Worte aus mir heraus, ich bin also nicht sprachlos. Noch immer kreisen meine Gedanken um meine Tochter: Ich habe sie also nicht vergessen. Noch immer empfinde ich unbeschreibliche Sehnsucht, wahnsinniges Glück, innige Liebe, bodenlose Trauer, wahre Demut und tiefen Respekt, sobald ich an sie denke. Ich bin also nicht emotional taub. Was ist es dann? Die Zeit ist einfach reif. Ich durfte sechs Jahre mit meiner zauberhaft inspirierenden und gewieft-herausfordernden Tochter erleben. Ich habe nun fast sechs Jahre ohne Vianne an meiner Seite verbracht und ihr habt mich auf meinen Weg treu begleitet. Mein Weg geht hoffentlich weiter, aber dieser Blog ist am Ende angekommen. Ich kann euch nichts Neues von Vianne erzählen. Ich kann euch nichts Neues von mir erzählen. Es war eine intensive Zeit hier mit euch zusammen. Danke dafür. Von Herzen Danke für euer Zuhören, Begleiten und Mitfühlen.

Süße Vianne, ich geh' mit dir, soweit ich kann. Und nun ist es an der Zeit, dich weiterziehen zu lassen. Die Zeit ist reif, mein Schatz. Wie würde es Ada ausdrücken: "Ich hoffe, du springst gerade mit einem Rentier durch die Wolken..." 

 Ich bin so tief durchdrungen von Vianne, dass meine Liebe zu ihr ewig in mir weiterlebt, weit über diese Blogeinträge hinaus, mindestens solange ich atme - und wer weiß - vielleicht auch noch darüber hinaus...


 Danke Zeit, für diese Zeit - und für all das Kommende, das sich zu entdecken lohnt.
"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben..."
 (aus: "Stufen" von Hermann Hesse)

Freitag, 24. Juli 2020

Fünf Jahre

Fünf lange, seltsame Jahre ohne Vianne - seltsam ist der treffende Ausdruck, die Empfindung, ob etwas lang oder kurz ist, liegt im Sinne des Betrachters. Lang kommt mir die Zeit vor, seitdem ich meine jüngste Tochter das letzte Mal atmend und mir ihrer Wärme bewusst in meinen Armen halten durfte. 
Alice: "Wie lang ist für immer?"
Weißer Hase: "Manchmal nur für eine Sekunde."
Lang, weil ich Vianne seitdem als lebendiges körperliches Wesen jeden einzelnen Tag vermisse. Lang aber auch, weil wir als Familie die Zeit nach ihrem Tod intensiv gelebt haben - eine Zeit voller neuartiger Eindrücke, eine Zeit des Ausprobierens, des Füllens, des bis an die Grenzen gehens.
 
 



Meine Einträge in diesem Blog fehlen mir, das merke ich, weil meine Unausgeglichenheit mit jedem ungeschriebenen Wort wächst. Von Januar bis April habe ich meine Gedanken über Vianne in meinem Journi-Blog "far far away" von unserem vierteljährliches Sabbatical in Thailand und Australien einfließen lassen. Deshalb war es hier so lange so still. Nach unser Rückkehr habe ich zuerst den entschleunigten Wiedereintritt in unser bekanntes Leben genossen und mir Zeit geschenkt, bevor unsere kleine "Eira", eine zuckersüße Australian Shepherd Hündin, bei uns Einzug hielt und unser Familienleben komplett auf den Kopf stellte und gehörig durcheinanderwirbelte. Eira brachte uns zur Verzweiflung, trieb uns halb in den Wahnsinn und schlich sich dabei unaufhaltsam in unser aller Herz.
 

Vianne hätte Eira ebenso geliebt wie wir. Vor einigen Wochen ist etwas Seltsames passiert: Ich habe Eira beim Spaziergang die Führung überlassen. Sie steuerte schnurstracks auf den Friedhof zu und zog in Richtung von Viannes Grabstätte, als ob sie spüren würde, dass auch an diesem Ort etwas von ihrzurück geblieben ist. Ada allerdings bringt unsere samtweiche, herrlich entspannte und mit einem Hauch Überheblichkeit gesegnete Karthäuserkatze "Vita" noch mehr mit Vianne in Einklang.
 
Vianne war Namensgeberin für Vita. Vita hat unaufdringlich und doch präsent auf der Sofalehne, ganz nah bei Vianne, gelegen, während meine Tochter nach und nach entschwand. Allein bei diesem Bild kommen mir schon wieder die Tränen, obwohl es mir eigentlich gut geht.
Zurück zum roten Faden: noch in der Eira-Aklimationsphase erwachten wenige Wochen nach unser leicht turbulenten Australien-Rückreise wieder die Hummeln in meinem Hintern und ich machte mich mit Ada, ihrer Freundin und Eira auf den Weg zum Weilandtshof an die Ostsee, wo ich eine Woche verbrachte. Interessant war, dass mir der Hof dieses Mal nicht die erforderliche innere Ruhe bescherte wie sonst und ich, obwohl ich zwischenzeitlich so viele Male dort war, dieses Mal umso schmerzlicher an Viannes Verlust erinnert wurde. Einen Flashback hatte ich, als ich mit Ada und Antonia über die Fehmarnbrücke zum Meeresaquarium fuhr. Meine Gedanken und Gefühle überschlugen sich, purzelten wild durcheinander. "Wir waren doch schon einmal in dem Meeresaquarium - oh Hilfe, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Vianne noch dabei war.... denk nach, denk nach, denk nach...." Während Antonia schlief, sprach ich gegenüber Ada laut meine Gedanken aus: "Weißt du noch, das letzte Mal waren wir 2012 auf Fehmarn - mit Vianne." Wirblige Gedanken. Erkenntnis. Nein. Wir waren 2015, kurz nach Viannes Tod, noch einmal auf  Fehmarn - in Puttgarden. Jesse war noch dabei. Er wollte keine Fotos von sich, weshalb es auch keine gibt. Auf der Autofahrt über die Brücke kommen mir heiße, unaufhaltsame, lautlose Tränen.

 
Meine einfühlsame Tochter erspürt mein Gefühlschaos und streichelte mir sanft vom Rücksitz aus über den Rücken. Wunderbare Ada. Ich lieferte die beiden Mädels am Meeresaquarium ab und machte mich mit Eira auf den Weg zum Hafen. Dort soll es an der Silo-Kletterstelle sehr preisvert ausgediente Leinen geben, die sich gut als Schleppleine für den Hund verwenden lassen. Hier am Hafen war ich definitiv 2012 das letzte Mal:  mit allen Kindern. Kurz bevor Viannes Tumor sein feistes Antlitz auf der MRT-Bildgebung zeigte. Wir hatten Nachbarn aus Hennen am Hafen auf Fehmarn getroffen, die zeitgleich zu uns dort ihren Urlaub verbrachten. Ich weiß noch, wie ich ihnen gegenüber meine Besorgnis aufgrund Viannes schleppenden Gang äußerte und innerlich dermaßen beunruhigt war, so dass es das gesamte Treffen und den Ausflug überschattete. 

Kennt ihr das, wenn euch euer Bauch sagt, dass sich Dinge verdammt richtig anfühlen und getan werden müssen. So ging es mir mit der Alpenüberquerung, die bereits kurz nach meiner Rückkehr von der Ostsee und nach nur einer Woche Arbeit in der Klinik auf dem Plan stand. Die Idee dazu kam so dermaßen spontan, dass ich mich im Nachgang frage, wie schnell und problemlos sich alles organisieren ließ (siehe Journi-Blog: "Ein Berg ist nicht
 genug").
 
Auch auf dieser Reise hatte ich Vianne im Gepäck. Während der sechstägigen Tour zu Fuß von Oberstdorf nach Meran über 3000er, schwindelerregende Hängebrücken und durch tiefe Täler konnte ich mich freilaufen und alle angestauten Gedanken fließen lassen. Ich weiß noch, wie Babsi und ich auf den lezten der am zweiten Tag bewältigten 1000 Höhenmeter irgendwie auf Schulranzen zu sprechen kamen und dann über Umwege auf Viannes Tornister, der noch immer ungetragen bei uns im Haus steht. Versucht mal, gleichzeitig bei so einem Aufstieg zu atmen und zu heulen. Klappt nicht! Mir blieb die Luft weg und ich musste mich erst einmal beruhigen, um wieder durchschnaufen zu können.
Und nun bin ich wieder zuhause und stürze mich voller Elan und Selbstzweifel in meine Arbeit, weil ich aufgrund meiner häufigen Abwesenheiten das Gefühl habe, meinen kleinen Patienten und meinen Aufgaben nicht so gerecht zu werden, wie ich will. Selbstzweifel plagen mich, ob ich gut genug in meiner Tätigkeit bin. Ob meine Expertise ausreicht. Ob ich überhaupt strukturiert genug bin? Ob ich nicht Patienten-Einschätzungen noch intensiver verifizieren müsste und häufiger auf Screeningverfahren und Testungen zurückgreifen müsste.Das letzte halbe Jahr möchte ich mich ganz intensiv meiner Arbeit widmen - so viel steht fest. 
Aber heute, heute, nehme ich mir all die Zeit für Vianne, die ich möchte. Auch wenn ich hier monatelang nichts niedergeschrieben habe, so drehen sich meine Gedanken und Gefühle ständig um meine jüngste Tochter. Ich trage Vianne nun auf meiner Haut. 
 
Wie es dazu kam, könnt ihr ausgiebig in Jesses Blog "Wir sehen uns im Pink Flamingo" nachlesen. Nur soviel sei gesagt: Schon lange wollte ich ein Tattoo von Vianne auf mir tragen, und in Bangkok war der richtige Augenblick und der richtige Mensch, der diesen Wunsch in die Tat umsetzen konnte, zur Stelle. Dinge geschehen, wenn sie geschehen sollen. Wenn die Zeit reif dafür ist. Das Tätowieren war ein Akt der Verinnerlichung, der Liebe und der Verbundenheit, und ich habe jede einzelne Sekunde und jeden einzelnen Nadelstich genossen. Aus Bangkok habe ich Vianne einen kleinen Jade-Elefanten mitgebracht, der auf ihrem Grab auf sie Acht gibt. Elefnaten vereinen so viele wunderbare Eigenschaften - ein passendes Geschenk. Faszinierend finde ich es, dass die kleine Spieluhr, die ich 2015 aus Nizza mitgebracht habe, noch immer ein hoffnungsfrohes "Somewhere over the Rainbow" vor sich hinorgelt. Probiert es ruhig mal aus.... Es ist schön...
Zu Viannes Geburtstag habe ich einen großen, kobaltblauen Kornblumenstrauß gepflückt und auf ihr Grab gestellt - mehr nicht. 
Ada wird momentan wieder vermehrt bewusst, was ihr genommen wurde: ihre Herzensschwester, ihre innigste Freundin und Verbündete, ihre Kicher-Kumpanin, ihre ebenbürtige Streitpartnerin, ihr größter Fan und ihre schärfste Kritikerin, ihre Seelenverwandte, ihre Komplizin. Das Mädchen, das die Welt bunt gezeichnet hat, das ihrer Umgebung geholfen hat, das Wunderbare und Magische im Leben zu entdecken. Sie war jemand, die die Welt eingeatmet und unsere Herzen schneller hat schlagen lassen. Sie neckte den Wind und streckte dem Regen ihre Zunge raus - um ihn zu kosten. 
 
Sie streichelte Adas und unsere Seele, liebte Märchen, Zuckerwatte und Schoofis Hühnereier, schwang sich mit den Drachen in die Lüfte und schlürfte grüne Smoothies, während ihre Geschwister dankend verzichteten. "Verfühlt nochmal" war nur eines ihrer Lieblingsspiele. Und auf der Schaukel flog sie bis in den Himmel. Ihren heißgeliebten Demeter-Vanillejoghurt schlürfte sie noch kraftlos in ihren letzten Tagen. Ihr Schnulli roch noch so lange nach Vanille... Ich schaffe es bis heute nicht, diesen Joghurt zu kaufen. Ada reicht allein die Erinnerung an manchen Abenden nicht aus und es fließen heiße Tränen. Sie möchte Vianne körperlich spüren, mit ihr zusammen das Zimmer umräumen, planen, Kopf an Kopf über den Hausaufgaben stöhnen. "Wir könnten voneinander Hausaufgaben abschreiben", sagt sie leise zwischen zwei Schluchzern. Sie fragt sich häufig, wie ihr Leben mit Vianne an ihrer Seite aussehen würde. Das fragen wir uns alle...
An diesem Abend vor wenigen Wochen brach die ganze Verzweifelung aus meiner starken Tochter heraus. "Was ist, wenn Luke auch noch geht. Er ist doch schon 16. Wenn Luke geht, bin ich ganz allein. Erst Vianne...dann Jesse..." Ich sage ihr relativ hilflos, während ich mit meinen eigenen Tränen kämpfe, dass jetzt ja Eira bei uns ist. Ada kann genau sagen, was sie fühlt. Das ist eine Gabe. "Vianne und ich haben eine besondere Verbindung. Ich horche immer mal wieder in mich hinein, ob ich das noch zu jemand Anderen habe - aber das ist nicht so. Vianne war so perfekt!" Luke kommt leise in Adas Zimmer, als sie ein neuer Weinkrampf packt. Er hat ebenfalls eine Gabe. Er gibt Sicherheit und dringt zu Ada durch - behutsam, einfühlsam, souverän und voller Wärme. Er entlockt ihr sogleich ein kleines Lachen. Danke Luke! Später sitzen Ada und ich noch verheult und lachend auf ihrem Bett und machen einen Zielwettbewerb mit unseren zahlreichen vollgeschnäutzen Taschentüchern auf ihren Mülleimer. Ich habe gewonnen.

Far far away

"...Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben..." (H. Hesse)

Im Januar 2020:
Ich bin meilenweit von Vianne entfernt... und ihr doch so nah, ohne sie wirklich erreichen, ohne sie küssen und umarmen zu können, ohne sie kichern zu hören und tanzen zu sehen. Wir sind in Thailand, umgeben von saftig blühenden Blumen, Früchte tragenden Bananenpalmen, gewaltigen Bäumen, bunten Blumen,  filigranen Schmetterlingen und neugierigen Äffchen - überall um uns überbordendes Leben. Glitzerndes Meer und schillernde Unterwasserwelt, Sternschnuppen und hoffnungsvolle Sonnenauf- und friedvolle Sonnenuntergänge.










Und Vianne ist tot. Dieser krasse Gegensatz wird mir hier noch bewusster als Zuhause. Außerdem gibt es hier keine konkrete Erinnerung an sie, was einerseits den Schmerz dämmt und ihn zugleich anfacht. In unserem Zuhause habe ich sie am Intensivsten erleben dürfen. Ihre Hühnchen-Spieluhr, ihre kleinen, gesammelten Schätze, ihre blau-pinken Schuhe liegen 8000 Kilometer entfernt in einem Koffer. Wie gerne hätte ich sie mit ihrem  Koffer auf diese Reise genommen. In echt, atmend, lebendig. Ich glaube, dieser Prozess der inneren Zerrissenheit muss auf dieser Reise stattfinden. Eigentlich fühle ich mich an sich gut und ein Stück weit befreit und genieße diese wunderbare Familienzeit mit Ada, Luke und Micha, voller Demut und Freude vor dem Leben, das uns umgibt.

Sonntag, 8. Dezember 2019

Tage wie dieser

Es gibt Tage, in die möchte man sein gesamtes Leben hineinlegen. Tage, an denen dein Herz weit ist und dein Verstand folgt. Heute war so ein Tag. Im Kreise meiner engen Freunde haben wir uns zum mittlerweile traditionellen Weihnachtsbaumschmücken getroffen. Wir haben getanzt, getrunken, gelacht, gemeinsam nachgedacht und daraufhin noch mehr getanzt. 

Ich werde meine Freunde vermissen auf unserer Reise um die halbe Welt. Aber ich werde jeden einzelnen mitnehmen. Doch ganz oben im Gepäck sind Jesse und Vianne. Mein Versprechen gilt. 
Ich habe kraftraubende Tage hinter mir: eine meiner kleinen Patientinnen, der ich emotional sehr nahe stand, ist verstorben, eine andere hat eine infauste Prognose - sechs bis zwölf Monate schweben im Raum... und ich möchte in den sechs Wochen, die ich sie begleiten darf, dazu beitragen, dass es eine lebenswerte Zeit wird. Zeit! Sie rast momentan. In nur wenigen Wochen sind wir unterwegs - wohin auch immer. Es ist gut, dass wir aufbrechen. Wie hat es Luke treffend umschrieben? "Danke, dass ihr eine Tür öffnet, um mal auszusteigen..." Seine Freunde haben ihm eine Kette geschenkt - mit Viannes und Jesses Inititalen eingraviert. Das ist Leben und dafür bin ich dankbar. Immer wieder überfordern wir Ada und Luke im Alltag und wägen uns in dieser trügerischen Sicherheit  der Zeit.. Und dann kommt dieser Abend, an dem Ada sagt: "Ich fühle mich in meinem Zimmer nicht wohl, bei euch ist es besser." "Warum fühlst du dich nicht wohl bei dir?", frage ich sie. "Ich bin allein dort!", sagt sie, während sich ein See der Trauer in ihren Augen spiegelt. "Wenn ich früher einmal nicht einschlafen konnte, wusste ich, dass Vianne in meiner Nähe liegt... jetzt bin ich allein in diesem Raum...." 
 
Adas neues Türschild...

Ich habe versucht, ihr Zuversicht zu schenken, habe ihr erklärt, dass Vianne sie so sehr geliebt hat, dass sie gar nicht weg sein kann, vielleicht physisch, aber nicht vom Gefühl her. Und dennoch fielen meine Tränen auf sie herab, weil ich Viannes physische Präsenz ebenso vermisse wie Ada. Doch wo Schatten sind, ist auch Licht. Eine gute Freundin schickte mir diese Zeilen:

"When I die give what's left of me away
to children and old men that wait to die.
And if you need to cry,
cry for your brother walking the street beside you.
And when you need me, put your arms around anyone
and give them what you need to give me.

I want to leave you something,
something better than words or sounds.
Look for me in the people I've known or loved,
and if you cannot give me away,
at least let me live in your eyes and not in your mind.

You can love me best by letting hands touch hands,
and by letting go of children that need to be free.
Love doesn't die, people do.
So, when all that's left of me is love,
give me away.

(Meditations befor Kaddish)

In diesem Sinne... Gute Nacht!

Samstag, 23. November 2019

"Dir will ich alles schenken..."

Wenn ich Vianne eine Stadt zuordnen müsste, würde ich ohne zu zögern Paris wählen. 

Sie wollte so gerne noch kurz vor ihrem Tod dorthin reisen, aber wir haben es nicht mehr geschafft. Die Zeit - sie ist uns einfach davongerannt und hat Viannes letzte Kraftreserven mit sich genommen, obwohl sie doch über solch eine unglaubliche Energie verfügt hat - nur eben nicht grenzenlos. Heute schmerzt mich der Gedanke, dass sich Vianne und Paris nie begegnen durften. Warum haben wir nicht alles daran gesetzt, ihr diesen Wunsch zu erfüllen??? Die beiden hätten sich auf Anhieb gemocht, hätten sich, um sich nicht die Blöße zu geben, kurz mürrisch gemustert und taktiert und sich dann für immer unzertrennbar verwoben. Da bin ich mir seltsamerweise absolut sicher.

Vianne und Paris sind für mich in vielen Aspekten deckungsgleich. Paris ist elegant und patzig-arrogant in einem. Es hat, trotz all seiner Präsenz und Popularität, so wunderbar verborgene, verwunschene Ecken, die sich nicht jedem auf Anhieb offenbaren. 

Paris verzaubert, ebenso wie Vianne verzaubert hat, ohne jemals das Bedürfnis gehabt zu haben. 


"Eine seichte Berührung von dir, 
zart wie ein Flügelschlag, 
ein Blick, ein Wort, ein Lächeln - 
und du hast die Menschen berührt, 
ganz tief in ihrem Innersten." 

Paris und Vianne berühren beide. 


Paris ist lebendig-bunt, verrückt, pulsierend. Paris ist leise. Es lässt das Herz vor Wonne hüpfen und gleichzeitig wehmütig sehnsuchtsvoll pochen mit einer Prise Melancholie. Paris ist eine alte Seele. Und Paris ist renitent-modern. 

Paris wird sich hoffentlich nicht irgendwann selbst auffressen. Die äußeren Arrondissements strecken ihre schmutigen Tentakel ins Zentrum vor, um äußerst brachial auf sich und ihre vielfältigen, von der Politik lange bewusst übersehenen Probleme aufmerksam zu machen, ähnlich wie sich Viannes Tumorzellen - ein Teil ihrer Selbst -  ins pulsierende Zentrum vorgefressen und eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben - und letztendlich zur vollständigen Zerstörung geführt haben. Ich hoffe von Herzen, dass Paris nicht das gleiche Schicksal erwartet... das rechtzeitig ein Heilmittel gefunden wird.
Vor wenigen Wochen sind Micha und ich für ein Wochenende zur Geburtstagsfeier meiner lieben Uli nach Paris gefahren, direkt ins Herz, ins quartier Marais. Der Himmel so blau, die Seine träge vor sich hinfließend, während das Leben in den Straßen pulsierte. Mein Herz hüpfte bereits bei der Anfahrt auf die Bastille und ich meinte zu Micha, dass wir am besten den ganzen Tag und die Nacht "durchmachen", um keine einzige Sekunde von Paris zu verpassen. 

Erst um 5 Uhr morgens, nachdem wir das quartier ausreichend erkundet und erspürt hatten, intensiv gefeiert und uns zum Abschluss mit liebenswert-lustigen Menschen singend und tanzend Richtung Hotel bewegt hatten, konnte ich müde-zufrieden aufs Kissen sinken. Ich hatte Paris in mich aufgesogen - hatte es für Vianne eingeatmet. Ich sah sie in ihrem schicken Mantel vor dem Hotel de Ville herhüpfen, während sie mich verschmitzt angrinst und vertraut ihre kleine Hand in meine schmiegt. Was für tiefe Sehnsüchte Paris in mir weckt... Jedes Mal macht die Stadt etwas mit mir. An diesem Wochenende hat sie sich Vianne und mir von ihrer schönsten Seite gezeigt. 

"Manchmal ist es so, 
als ob das Leben 
einen seiner Tage herausgriffe
und sagte: 'Dir will ich alles schenken!
Du sollst ein rosenroter Tag werden,
der im Gedächtnis leuchtet, 
wenn alle anderen vergessen sind.' " 
(Astrid Lindgren)


Früher habe ich Paris häufiger besucht, einmal sogar über mehrere Wochen. Ich weiß gar nicht, was mich nach der Geburt der Kinder davon abgehalten hat, Paris aufzusuchen? Die Liebe war ungebrochen vorhanden, aber irgendwie geriet die vertraute Stadt zwischenzeitlich auf das Abstellgleis. "Wir haben alle Zeit der Welt, dich gemeinsam mit den Kindern zu besuchen." Welch trügerische Fehleinschätzung... Vianne wird Paris niemals kennenlernen. Deshalb habe ich dieses Wochenende für sie mitgelebt - pur, ausgiebig, mit offenem Herzen, verrückt, wild, besinnlich
Wir reisen weiter mit dir, Vianne....

Freitag, 27. September 2019

Aufbruchstimmung

Meine Süße, ich schreibe gerade ziemlich viel in Jesses Blog und versuche, durch den September und Oktober zu kommen, arbeite mega viel und bin häufig einfach nur erschöpft, und dabei möchte ich auch noch präsent sein für Luke, Ada und Micha. Deshalb entschuldige, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe. Aber gedanklich bin ich jeden Tag bei dir. Versprochen! 
Bist du bereit für ein Abenteuer, mein kleiner Draufgänger? Mit Sicherheit, so wie ich dich kenne. Selten habe ich ein tapfereres kleines Mädchen mit solch unbändiger Energie erlebt. Obwohl ich vielen tapferen kleinen und großen Menschen in meiner Arbeit begegne. 
Ich möchte mich nicht im Gestern verlieren. Auch wenn die geschenkte Zeit mit dir solch eine süßlich-herbe Faszination auf mich ausübst, dass ich manchmal nur mit äußerster Anstrengung aus der Vergangenheit zurückkehren kann. Ich liebe das Hier und Jetzt. Pur. Intensiv. Ich sauge die Welt auf für dich und Jesse und mich. Wir sind in Aufbruchstimmung. Die ganzen Jahre über seit deinem Tod fühlte ich mich in diesem anhaltenden Prozess der Trauer und Erkundung, Hinterfragung und Faszination vom Leben und Sterben blockiert. Irgendetwas fehlt, damit wir weiter gehen können. Jetzt machen wir uns auf den Weg - wider aller Vernunft - wider aller Regularien -  geboren aus einem unbeschwerten Abend bei einem genussvollen Glas Wein und packen unseren Rucksack. Wir gehen für längere Zeit weg, um zurückzukehren. Wir gehen weg, um deine Geschwister, uns, dich und Jesse noch intensiver zu erleben. Wir haben so viele Fragen. Ich glaube, nur die Natur, ihre Gesetze und die Naturvölker können uns innerlich zur Ruhe kommen lassen. Wir werden die Welt erkunden. Wir sind ganz nah dran: Bald geht es für mehrere Monate nach Thailand und Australien - und zum krönenden Abschluss zum Ski- und Snowboardfahren in die Berge Südtirols. Glaubst du, der Wind fühlt sich auf der anderen Seite der Erdkugel ähnlich an? Glaubst du, dass das Salzwasser den gleichen Geschmack haben wird?  Glaubst du, dass die Sterne ebenso hell auf der Südhalbkugel funkeln werden? Eines steht fest: Wir lassen uns gemeinsam von Wind und Wellen die Haare zerzausen und springen lachend und voller Demut, etwas Wehmut und ganz viel Übermut durchs Leben. Ich liebe dich!